Die Selbstverständlichkeit des Rückblicks

Mit drei Kindern scheine ich nun für ausführliche Vergleiche in der jeweiligen Entwicklung absolut qualifiziert zu sein. Vielleicht sind mir diese Fragen aber auch zuvor nie so aufgefallen. Vielleicht ist das alles aber auch zu lange her bei meinen großen beiden, aber nun, da mein Baby lauter bedeutsame Entwicklungsschritte erlebt, stehen lauter Fragen im Raum. Wann hatten die großen den ersten Zahn? Wann sind sie gekrabbelt? Oh man, ich weiß ehrlich gesagt gar nicht mehr ob beide tatsächlich gekrabbelt sind. (...ich grüße an dieser Stelle alle die Mütter, die auch nicht so genau Buch führen)

Sicherlich sind alle diese Phasen von großer Bedeutung. Ich bin mir sicher, dass ich diese einzelnen Schritte bei meinen ersten beiden Kindern nicht so intensiv erlebt und gefeiert habe wie jetzt. Manchmal bemerke ich die etwas zu neutralen Gesichter der Menschen mir gegenüber, wenn ich komplett aufgeregt erzähle, wie sich mein Baby nun aus der Bauchlage hinsetzen kann. Für mich ist das so unfassbar groß und ich bin ganz eingenommen von ihrem Fortschritt.

Das erste Kind habe ich etwas verpasst, weil meine Überforderung und ein großer innerer Krieg mich sehr dominiert haben, das zweite Kind war sehr nah nach dem ersten und blöderweise während dem Einleben in ein neues Zuhause mit vielen Herausforderungen. Schade drum. Ich genieße dafür jetzt jeden Moment aus ganzem Herzen und mit all meiner Aufmerksamkeit.

 

Ich reduziere also manchmal diese besondere Phase des Krabbeln Lernens und sage „Ja, genau, mit 8 Monaten konnte sie krabbeln.“ Völlig verwirrt betrachte ich solche Aussagen aus meinem Alltag heraus. Ich erlebe, dass das Erlernen von einer so wichtigen Fortbewegung nicht ein Moment ist. Es ist auch von viel zu großer Wichtigkeit, als dass ich es auf eine Monatsangabe herabstufen kann.

Gerade sehe ich, dass es ein Prozess ist. Es sind so viele kleine Schritte und Augenblicke, die alle zusammen eine Zeitphase ergeben, in der mein Baby etwas Neues erlernt. Es ist Wachstum in seiner reinsten Form.

Es ist verbunden mit so vielen Beulen, weil es ständig nicht gelingt und sie mal da plumpst und mal dort anstößt. Sie weint, denn manchmal tut es weh und manchmal will es nicht klappen. Ihr Kopf ist schneller in seiner Entwicklung als die Beine sich bewegen wollen. Die Koordination ist schleppend. Ich beobachte das alles mit größter Faszination und frage mich etwas frustriert, wie ich in drei Jahren sagen kann, ja genau, mit 8 Monaten konnte sie krabbeln.

Natürlich verstehe ich, dass das halb so dramatisch ist, einzelne Lernprozesse im Babyleben in solche Schubladen zu stecken. Zeitangaben sind etwas normales und tun ihrer Entwicklung nichts. Ich denke es tut mir innen drin nur so weh, weil ich das etwas tiefer fühle.

 

Kennt ihr das, wenn man ein hartes Jahr hatte und später einfach nur sagt, „2022 war ein richtig hartes Jahr.“ Denkt an die Tage wo die Tränen gar nicht aufhörten, an den Schmerz, den die Gegenwart da trug. An die Aussichtslosigkeit und all den Frust im einzelnen Moment. Später ist das einfach in der Summe eben ein hartes Jahr gewesen.

Wenn ich mir jetzt manchmal zuhöre, wie ich von den einzelnen Zeiten in der Krankheitsphase meiner Schwester rückblickend erzähle, dann ist das alles reduziert auf ein Erleben. Aber die Phase der OP am Gehirn bestand aus so vielen Entscheidungen und Tränen und so vielen Augenblicken. In der Selbstverständlichkeit des Rückblicks, scheint kein Raum zu sein für die Tränen, die Fassungslosigkeit und die vielen kleinen Schritte.

Es ist irgendwie logisch und zugleich leicht zu sagen, DANN konnte sie krabbeln. Aber es scheint mir nicht würdig. Es scheint mir, wir verlieren den Blick für den Prozess. Zu lernen wie man krabbelt ist kein Moment, es ist eine lange und intensive Phase. Auch die Zähne bedeuten, wie wir alle wissen, schlaflose Nächte. Später war es einfach nur ein Zahn der mit 5 Monaten da war. Als ob er morgens plötzlich im Mund war und wir alle denken, oh super, heute hat sie einen Zahn bekommen. Aber ich glaube nicht, dass eine Mutter von einem Zahn überrascht wird, dem sie mit vielen schlaflosen Nächten und einem fortan schreienden Baby entgegen gefiebert hat. Das hat man sich beinah irgendwie erkämpft.   

 

Ich möchte eigentlich gar nicht so sehr kritisieren, wie wir hinterher auf einzelne Phasen blicken. Das ist eben auch Teil der melancholischen Facette in uns. Rückblickend fallen uns die guten Dinge ein und wir sagen ja auch grundsätzlich früher war es besser. Wir erleben Gott sei Dank die Vergangenheit nicht andauernd so intensiv, wie sie in der Gegenwart war. Das wäre schlimm.

Viel mehr möchte ich die, in genau solchen Phasen ansprechen. Wenn man den anderen zuhört, die davon erzählen, wie dies und jenes für sie war. Dann hört sich das leichter an, als sich die Gegenwart anfühlt. Da ruht eben so eine Selbstverständlichkeit im Rückblick. Das ist die Kunst des Überwindens. Wenn es hinter dir liegt hat es nicht mehr dieselbe Kraft über dich.

Aber was ist, wenn du mittendrin bist. Wenn du dir noch die Beule am Kopf hältst, vom Zusammenstoß mit der Heizung und merkst, dass der Boden gerade in rasender Geschwindigkeit näherkommt, weil deine Beine dich wieder einmal nicht halten wollen, wie du willst. So stelle ich mir das vor. So sieht das irgendwie aus, wenn ich versuche die Gegenwart meines Babys in Worte zu fassen. Und beinah erschreckend stark fühle ich das in mir drin. Zum Glück ist bei ihr alles gut.

 

Aber ich empfinde den Prozess selber als eine harte Reise. Den Weg von hier nach da. Bis ich das Neue gelernt habe.

Später, wenn ich einfach laufe, als wäre es das normalste der Welt, denkt niemand, eingeschlossen ich selber daran, wie ich mich durch die Entwicklung krabbeln zu lernen, gequält habe. Aber hier mittendrin – hier ist das ein zäher Prozess, der alles andere als an einem Tag bewältigt ist.

Ich möchte mir und jedem Mut machen, dem Prozess nicht aus dem Weg zu gehen. Wir krabbeln bevor wir laufen. Wir lernen Gleichgewicht zu halten und sicher zu stehen, bevor spazieren gehen eine Selbstverständlichkeit ist. Jetzt gerade fühlt sich das nicht an, wie ein Schritt den ich zu bewältigen habe. Es ist mühsam. Es ist ein Kampf. Es ist schwer und triefend nass von all den Tränen. Aber es ist eben das, worauf wir später irgendwann mit Selbstverständlichkeit zurückblicken. Dann war es eine Phase. Heute ist es die knallharte, etwas brutale Gegenwart.

 

Und vor allem ist es eins, es ist heute endlos. Niemand sieht in der Gegenwart das Ende einer Entwicklungsreise. Somit ist es für den Moment etwas, das kein Ende hat. Das ist endlos. Endlosigkeit kann man nur mit Hoffnung und Glauben entgegentreten. Glauben an etwas Größeres. An etwas das unberührt ist von unserer Gegenwart. Gott zum Beispiel. Gott sieht das Ende. Ich glaube an manchen Tagen nur deshalb an ihn, weil ich sicher bin, dass er der Einzige ist, der das Ende sehen kann und mich zu einem guten Ausgang der Situation führen kann. Es macht einfach keinen Sinn, ihm den Rücken zu kehren. Manche Phasen meiner Gottesbeziehung sind von viel Schweigen beiderseits geprägt. Aber das macht nichts. Uns beiden nicht. Wir verstehen uns. Er lässt mich. Das ist, wie wenn man im schlimmsten Moment einfach nach der Hand des anderen greift und festgehalten werden will. Ich suche kein Gespräch. Ich suche einfach die Hand von einem, der mich sicher hält und mehr weiß als ich. Das fühlt sich sicher an. Und Sicherheit ist dringend notwendig in so einer Gegenwart. Jesus hat eine treue Hand. Eine warme und weiche. Eine von der Sorte, die richtig festhält.

 

An meinem ersten Tag im Kreissaal reichte mir meine sehr unnahbare und ernste Mentorin die Hand zur Begrüßung, als ich ihren Händedruck erwiderte, schaute sie mir sehr tief in die Augen und sagte „Fester – mit so einem laschen Händedruck kommst du nicht weit hier. Hebammen haben einen festen Händegriff.“ Das habe ich mir für alle Zeiten gemerkt. Ich liebe feste Hände. Eine Hand die fest zugreifen kann, ist eine Hand die dich halten kann, die dich führen kann und dir die Richtung vorgeben kann. Ein lascher Händedruck spricht sehr laut. Von Unsicherheit und fehlendem Mut. Niemand möchte ein Hebamme unter der Geburt, die selbst nicht so genau weiß wie man dieses Baby nun auf die Welt bekommt.

Unsere Phasen haben viel gemein mit Geburt, oder? Ich jedenfalls erlebe tausende von Parallelen. Da braucht es jemanden, der dir in dieser sehr harten Zeit mit voller Sicherheit sagen kann, was du tun sollst und wann du es tun sollst. Jesus ist so. Ihm fehlt es weder an Sicherheit noch an Lösungen. Und manchmal gibt es einfach Monate, vielleicht sogar Jahre, da geht er einfach neben dir und ist sicher. Er ist sich seiner Sache sicher. Ich habe große Sehnsucht nach Sicherheit. Inmitten von meinem Durcheinander und meinen Fragen ist es lebensnotwendig jemanden zu haben, der sicher ist. Und bei mir jemanden, der meine Hand hält, mit fester Sicherheit. Ihn besorgt nichts. Ihn gehen meine Tränen etwas an und er nimmt meine Phase sehr ernst. Er ignoriert mich nicht.

Aber bei mir ist es einer dieser Momente, wo keiner etwas zu sagen braucht. Weil gerade einfach keine Zeit ist für Ratschlag und Diskussion.

 

Mein Baby verlässt sich ganz und gar auf meine Unterstützung, ihr gilt mein Support und meine Ermutigung. Ich weiß ganz unbesorgt, dass sie irgendwann laufen wird und auf diesem Weg werde ich sie begleiten. Sie hört meine Zuversicht und meine Freude in jedem meiner Worte, sie kann es in meinem Gesicht sehen. Ich verpasse sie nicht. Ich glaube an Jesus genauso in meinem Leben. Er verpasst mich nicht.

Und irgendwann ist das gestern.

 

Das Lied zur Beerdigung meiner Schwester enthielt folgende Zeilen „Irgendwann tut das nicht mehr so weh. Irgendwann liegt das lange zurück. Doch heute fehlst du mir wie verrückt.“

Ich finde es tröstend an ein Morgen zu denken. Aber es darf uns nicht völlig taub und blind für heute machen. Erlebe dein Heute. Erlebe den Prozess mit all seinen kleinen Schritten. „Gib deine Hoffnung nicht auf“ war mal die einzige Antwort meines Mannes, nachdem eine Flut an Verzweiflung, Wut und Ohnmacht in mir ihn traf. Ich werde das nie vergessen. Manchmal ist das alles.

Ich möchte mir nicht die Gefühle, die manchmal laut und ungestüm sind verbieten. Jesus kommt damit auch zurecht. Er schläft auf dem Schiff in unserem Sturm und ich glaube nicht, dass die Jünger Rücksicht auf ihn genommen haben und leise um ihr Leben kämpften. Ich habe da so eine Sicherheit in mir, dass Jesus gut damit zurechtkommt, wenn ich um mein Leben schreie und meine Verzweiflung ziemlich laut wird. Ich habe auch so eine seltsame Sicherheit, dass er dann gern schläft, dann erspart er sich eben genau das ohne von meiner Seite zu weichen.

Ihn regt das nicht auf, er ist weder beunruhigt noch verzweifelt in meinem Sturm. Das ist auch wichtig, schließlich herrscht er darüber, kennt den Ausgang und kann mir nur dann eine feste Hand reichen, wenn es ihn selber nicht überwältigt. Das ist Sicherheit. Das ist eine Hand, die man ergreifen sollte.

Aber so ein Sturm ist nur rückblickend eine heftige Erfahrung. Mittendrin ist es eine Urgewalt und eine Kraft, bei der man nur hofft lebend herauszukommen.

 

Ich würdige mittendrin. Ich lasse mir von der Selbstverständlichkeit, die unser Leben so gerne in eine kleine, feine Broschüre zusammenfasst nichts anderes als Mut machen. Jeder Schritt zählt und ist von Bedeutung. Denn jeder von ihnen bringt dich näher ans Ziel. Auch wenn sie hinterher in der Summe zu einem großen Ganzen zusammengefasst werden, sind sie heute für mich von Bedeutung.

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