Momentaufnahme

Es sind immer diese letzten hundert Meter, bei denen ich mich selber, sowie die ursprünglich gute Absicht massiv hinterfrage. Die Frage nach dem "Warum" und ob es lohnenswert ist stellt sich genau dann. Kaum noch eine Idee, die Gedanken umzulenken. Es zählt jeder Schritt. Und tatsächlich ist der ganze graziöse Schwung vom Anfang nur eine entfernte Erinnerung und der blanke Spott für den Moment.

Es fühlt sich etwas persönlichkeitsgespalten an, weil ich einfach ein ganz anderer Mensch bin, wenn ich starte. Der, der ankommt, völlig durchgeschwitzt und sichtbar erledigt, ist einfach jemand ganz anderes, als der, der losläuft.

Ich rede vom laufen. Joggen. Offensichtlich, oder?

 

Der fehlende Ehrgeiz als junges Mädchen, sich mal durchzubeißen und etwas zu bezwingen, beispielweise den eigenen Schweinehund, hat mich eingeholt. Zum einen musste ich schrecklich viel Gewicht runter kriegen nach den Geburten meiner Kinder, zum anderen befand ich mich eh in einer Phase der Selbstreflexion und offensiven Weiterentwicklung.

 

An dieser Stelle möchte ich mal einen kleinen aber bedeutenden Part dem Abnehmen widmen. Ich habe tatsächlich nach meinem ersten Kind, als schon sämtliches Wasser und die üblichen Kilos verschwanden, knapp 30kg und bei meinem zweiten Kind wieder 20 kg abgenommen. Einmal ist das sehr ärgerlich, weil der Körper nicht viel Freude an solchen Gewichtsschwankungen in so kurzer Zeit hat und zum anderen ist das wirklich harte Arbeit. Hier also mein Appell: so unfassbar viele Möglichkeiten werden uns angeboten, sobald wir uns mit dem Thema beschäftigen, und doch, gibt es nur eine wirklich effektive Möglichkeit, die unserem Körper UND unserer Seele gut tun: Ernährungsumstellung und Sport. So habe ich es geschafft. Und ich kenne auch eine Menge Alternativen, bin aber mit keiner so weit gekommen, wie mit viel Salat und Sport. Ich finde es wichtig, das mal zu sagen, weil es öfter untergeht, in den ganzen Diät Optionen.

Natürlich braucht es da unseren eisernen Willen. Weil wir aber daran gewöhnt sind, sehr schnell an Ergebnisse zu kommen und wenig investieren zu müssen, sind wir etwas verdorben für die Wahrheit.

Ich sehe jetzt nicht aus, wie sonst wer, selbstverständlich gibt es noch genug Verbesserungsmöglichkeit, aber ich sehe auch gerne eben auf das, was ich geschafft habe, wie ich eben nicht mehr aussehe.

Wie auch immer, aus der Notwendigkeit wurde ein Hobby. Ich habe zu meinem eigenen größten Erstaunen Freude an Ausdauer Sport gefunden. Überwiegend mache ich Sport zuhause, wo es um Kraft geht, das lag mir schon immer eher, aber die Entdeckung der Freude am Konditionssport ist spannend für mich. Ich mochte wohl auch früher schon Sport, aber ich war die Kategorie Mädchen, die von den anderen beim Ausdauerlauf gewaltig überrundet wurde. Eine meiner weniger schönen Erinnerungen.

 

Jetzt fand ich mich also wieder, viele Jahre später, und fragte mich, ob ich es wirklich nicht schaffe. Ob ich wirklich nicht "der Typ dafür bin"?

Und beim erkämpfen neuer Grenzen, wenn du denkst, ich schaffe wirklich keinen Meter mehr und trotzdem weiter läufst, sind in mir so viele schöne Dinge wach geworden. Viel Ehrgeiz, den ich bitter nötig hatte, der Glaube daran, dass ich Dinge aushalten kann, selbst wenn mein ganzer Körper schreit, das ist die Grenze. Der Schritt, der darauf folgt, wurde so unendlich bedeutend für mein Leben.

 

Tatsächlich fand ich mich in den Tagen vor dem Tod meiner Schwester genau da wieder. Mein ganzes Inneres hat geschrien, dass die Grenze erreicht ist und ich das nicht ertragen kann. Und dann kam der Schritt danach. Einfach noch einer und noch einer. Und am Ende hat sich meine Grenze verschoben. Ich habe mein Limit wieder um einen Kilometer ergänzt. So plötzlich kam es mir in der realen Welt zugute, mich vorher so hart durchgebissen zu haben. Mich zu fordern. Herauszufordern und zu testen.

Ich wusste, es fühlt sich wie Grenze und Limit an, aber das bedeutet nicht, dass es das auch ist.

 

Aus dem Kämpfen und der Persönlichkeitsentfaltung beim Joggen wurde also eine Freude am Laufen draußen und ein neu gewonnenes Hobby. Ich komme raus und kann in Ruhe denken und durch die Gegend laufen. Ich steigere weiter meine Ausdauer und erhöhe die Strecke, aber darum geht es gar nicht mehr so sehr.

Beim Laufen kommen mir die besten Gedanken. Und eben genau da, holte mich auch der Gedanke für diesen Blogeintrag ein.

 

Wenn ich so halbtot 200 m vor unserem Haus meinem Ende entgegen sehe, ärgere ich mich, wenn Leute mir diesen dämlichen Mitleidsblick zu werfen. Ich wünschte, sie hätten mich alle gesehen, als ich vorhin losgerannt bin.

Jaaaha! Das ist immer mein Moment. Ich sehe top fit aus, habe tolle Sportsachen an, die Haare sitzen und mein lässiger, endlos entspannter Gesichtsausdruck lässt nichts von Anfängersport erahnen. Der Schwung passt und das Tempo ist zügig.

Der kleine Sprint locker weg beim Straße überqueren macht einen wirklich tollen Eindruck und ich habe ein gutes Gefühl.

 

Aber dieses klägliche Etwas, das mit Nahtoderfahrungscharakter seine letzten Meter bezwingt, hat einfach nichts huldvolles. Da gibt es nichts anmutiges und bewundernswertes. Dafür empfindet man eben nur Mitleid. Vielleicht auch etwas Belustigung, aber den Gedanken denke ich ungern weiter, der Würde wegen...

 

Der kleine, feine Unterschied, zwischen diesen zwei Momentaufnahmen ist aber, dass die deprimierende Erscheinung am Ende eben die 6km gelaufen ist. Die frische Sportkanone am Anfang hat noch keinerlei Leistung gebracht. Der Weg liegt noch vor mir.

Die Menschen, die mich sehen, wissen nicht ,wo ich wohne und ob ich vielleicht am Ende meiner Strecke so galant und euphorisch laufe, oder vielleicht gerade erst losgelaufen bin und schon aussehe, als wäre ein Notarzt durchaus angebracht.

Niemand kennt meinen Weg. Niemand kennt mein Ziel. Und doch urteilt man gerne.

Ich kenne das gut. Man erhascht lediglich eine Momentaufnahme im Leben eines anderen und doch meint man etwas dazu sagen zu können.

Wir bewerten gerne, wie sich ein anderer verhält. Wie er sein Leben meistert.

Weder das Ziel, noch ob er sich am Anfang befindet ist uns bekannt, und doch glauben wir ein Urteil fällen zu können.

Die Herausforderungen, die mein Gegenüber meistert, rufen tatsächlich niemals nach meiner Bewertung.

 

Wir kennen das alle gut. Wenn ich eine Hürde zu bewältigen habe, kannst du kein Urteil fällen, denn du weißt nicht, wo ich mich gerade befinde. Du weißt nicht, ob ich gerade losgelaufen bin oder schon die gesamte Strecke gemeistert habe. Meine Niedergeschlagenheit bei einem Projekt oder einer Sache ist vielleicht angebracht, weil ich mich bereits seit Jahren erfolglos da investiere. Weißt du das? Du erhältst nur eine Momentaufnahme und bewertest meine "unangebrachte Theatralik und meinen Hang zur Dramatik". "Und überhaupt siehst du immer so schwarz und kannst nie mal etwas durchziehen." 

Vielleicht begegnest du mir aber auch in einem motivierten und euphorischen Moment, daraufhin wertest du, wie positiv und energisch ich meine Aufgaben immer bewältige und wie inspirierend ich für andere bin. Dabei bin ich vielleicht ja erst seit gestern an der Sache dran, mir sind bisher weder Schwierigkeiten begegnet, noch erahne ich auch nur annähernd mein Limit.

 

Aber wisst ihr, was doch die wirklich inspirierenden Geschichten und Menschen sind, die, die schon Weg gegangen sind und die Strecke schon hinter sich haben. Die, die aussehen, als würden sie von woanders kommen. Das sind eben auch genau die, die ihr Limit erreicht haben und trotzdem bis nach Hause weiter gelaufen sind. Die erzählen uns Geschichten vom Versagen und wieder Aufstehen. Wir sehen ihre schmutzigen Schuhe und riechen den Schweiß, aber sie erzählen eben auch eine Geschichte.

Die Eigenarten und Makel an anderen sind uns oft Grund genug, das weite zu suchen. Aber ich appelliere an Weitsicht.

Weiter zu gucken als nur bis dahin, was sich jetzt gerade vor unseren Augen abspielt. Das sind nur Momentaufnahmen. Woher kommst du, was liegt hinter dir?

Das weckt in uns unfassbar viel Barmherzigkeit mit unserem Umfeld. Wenn du dir Zeit für die Geschichten nimmst, weiter schaust als bis zum offensichtlichen, wird es erst inspirierend und interessant. Wer sich Zeit für das Gestern nimmt, gelangt zu Verständnis für heute.

 

Ein barmherziges Miteinander ist mein Traum. Viel, viel öfter mal ein Auge zu drücken, wenn der andere gerade nicht ist, wie es mir lieb wäre oder mir vertraut ist. Hinter die Gesichter schauen und um einen Blick ins Herz bitten.

Dann erst sehen wir das ganze Bild.

Dann erst sehen wir, so wie Jesus sieht.

 

Es gibt immer eine Geschichte dazu, und ich liebe es, diese kennen zu lernen. 

Wir brauchen Weitsicht um die Momentaufnahmen in Gänze zu erfassen.

 

Ein wichtiger Punkt bleibt. Ich laufe gerade 5 km ziemlich locker, und 6 km sind gerade meine Herausforderung. Für mich ist das eine gute Leistung, weil ich weder schon ewig Sport treibe, noch so oft zum laufen komme. Jetzt gibt es zu einhundert Prozent viele, die bei dem letzten Satz etwas lächeln, oder stutzig sind, weil sie begreifen, dass bei der Weltuntergangserschöpfung, die ich anfangs beschrieben habe, gerade mal ein Lauf von 6 km hinter mir liegt.

Das ist ein extrem wichtiger Punkt. Denn nur weil 6 km für dich ein Kinderspiel sind, bedeutet es nicht, dass es meine Herausforderung schmälert!

Wir hören oft andere, die an Dingen kaputt gehen oder mit Sachen hadern, die uns völlig belanglos erscheinen.

Aber wer hat gesagt, dass du das Maß aller Dinge bist?

Meine 6 km sind für dich ein Klacks. Aber mit Sicherheit gibt es Dinge, die für mich völlig problemlos von der Hand gehen, woran du zerbrichst.

Versteht ihr? B A R M H E R Z I G K E I T.

Barmherzigkeit mit dem Weg, den mein Gegenüber gerade geht. Verständnis dafür, dass genau diese Sache ihn gerade alles kostet und er deine ganze ehrliche Unterstützung braucht. Nicht dein Urteil. Nicht deine Wertung. Dein Herz. Deine Arme und deine Liebe.

 

Ich möchte mit Weitsicht auf mein Umfeld schauen.

Den Momentaufnahmen clever begegnen und die Geschichte dahinter sehen.

Ich möchte Barmherzigkeit für alle, weil sie nicht mir entsprechen müssen, weder meinem Maß noch meiner Komfortzone.

Ich drücke gern eine Auge zu, weil es gut tut, nicht zu werten, sondern einfach zu sehen.

Und ich schaue aus deiner Perspektive auf deine Kämpfe.

Ich erkenne an, dass deine Herausforderung zu dir gehört und nicht mit meinem Maß gemessen werden kann.

 

Und ich gehe weiter laufen. Weil es mir gut tut und man dann anschließend endlos lange Dinge im Internet schreibt...

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