Aus der Mitte

Was ist wenn ich meinen Text verfasse, bevor ich das triumphale und siegreiche Ende meiner Katastrophe erreicht habe? Ist es fair, wenn ich von Anfang an weiß, dass es kein Happy End in meiner Geschichte gibt? Will diese Zeilen jemand lesen? Oder ist es zu deprimierend und nüchtern?

Manchmal waren meine Probleme für Freundschaften zu niederschmetternd. Sie verbreiten keine gute Laune und auch keine Hoffnung. Und weil sie aber ein Teil von mir sind, starben Freundschaften den Erschöpfungstod. Erschöpft von meiner immer und immer wiederkehrenden tragischen Geschichte.

Ich selber habe das Gefühl, mich entscheiden zu müssen, für einen Grad der Präsenz all dieser Dinge. Wie sehr sind sie da. Natürlich ist das absolute Ironie, denn „da“ sind sie immer, nur wie viel gebe ich ihnen. Lasse ich es zu, dann weiß ich, kommen harte Tage und viele Tränen. Ignoriere ich es zuweilen, habe ich gute Laune und bin unbeschwert.

Es hängt wie eine elende, dicke Wolke über mir und ich warte triefend nass auf das glorreiche Ende.

Nur was ist, wenn das Ende nicht kommt und ich warte vergebens. Ich habe so viel zu sagen, mein Herz ist so voll und ich fühle mich nicht befugt, meinen Mund zu öffnen, weil meine Geschichte so viel Trauer verbreitet.

Ich möchte selber lieber eine Geschichte erzählen, die mit dem besten Ende schließt und jeder hat dann dieses bekannte, gute Gefühl, das am Ende dieser schönen Erzählungen folgt. Aber damit kann ich nicht dienen. Weil sich negative Gefühle und diese Leere am Ende so doof anfühlen, lasse ich es und schweige.

 

Ich will aber reden. Darüber, dass ein Leben mit einer chronisch so schwer erkrankten Schwester von vorne bis hinten grausam ist. Darüber, dass wir nicht weiter wissen und die Tränen nicht weniger werden. Über furchtbare vergangene 16 Jahre voller Krankheit und schaurigen Momenten. Über fehlende Lösungen und unzählige, unbeantwortete Fragen.

Ich traue mich, meine traurige Geschichte jetzt zu erzählen, weil ich an alle die denke, die auch auf das siegreiche Ende warten, bis sie endlich erzählen können, wie gut es ausgegangen ist.

 

Meine Schwester war kerngesund für 15 wunderschöne Jahre. Sie war so aufgeweckt und lebendig, dass ich jetzt das Gefühl habe, sie wäre tatsächlich gestorben, so fern ist dieses Bild. Sie erlitt mehrere Hirnhautentzündungen aus ungeklärter Ursache. Daraus folgte eine sehr komplizierte Epilepsie, die niemand in den Griff bekommt, sowie Diabetes und der totale Verlust ihres Kurzzeitgedächtnisses. Ich könnte sogar noch weitere Diagnosen hinzufügen, die man im Laufe der Jahre gestellt hat, aber das würde den Rahmen des Negativ-Möglichen wohl sprengen.

Ich kann natürlich jetzt alle Geschichten aus diesen harten Jahren erzählen und ich würde für einen hohen Unterhaltungswert garantieren, aber ich berichte lieber aus der Mitte.

Aus der Mitte, wo wir ein Jahr nach dem anderen rumkriegen, uns immer wieder ausmalen, wie es bald besser wird, und dass Jetzt das Jahr der Besserung auf uns wartet. Nur hat es sich seither vor uns versteckt, dieses alles entscheidende Jahr der Besserung. Einmal sagte mir jemand, wie löblich es sei, dass wir immer noch durchhalten. Ich höre absolut, wie gut das gemeint war und muss dennoch sehr zynisch lächeln, denn jeder, mit einer vergleichbaren Situation wird mir zustimmen, dass die Auswahl an anderen Wegen etwas dürftig ist. Was sollen wir denn tun? Ganz ernsthaft, was soll man denn anderes machen als einfach immer weiter. Es gibt ja keine andere Option für die nächsten Angehörigen. Aus dem Staub machen können sich Freunde, denen die ganze Schwere zu belastend wird, aber nicht wir.

 

Neulich las ich mit meinem Sohn eine schöne Abendandacht, bei der es um David ging, der sich in seinem Kampf gegen Goliath auf den Gott beruft, der ihm schon so oft geholfen hat und deshalb auch diesmal an seiner Seite sein wird. Mein Sohn und ich sprechen also über die vielen Nächte, in denen Gott ihn beschützt hat und tatsächlich keine Krokodile in sein Bett gekommen sind, also darf er sich ganz getrost auch diese Nacht darauf verlassen, dass Gott ihn wieder vor den Krokodilen beschützen wird. Ich muss seine Angst etwas belächeln, denn ich weiß, wie unwahrscheinlich Krokodile in unser Haus einfallen. Und manchmal hoffe ich, dass der Gott, der so massiv schweigt, genauso lächelt, weil er sieht, dass uns die Bedrohung nichts anhaben kann, dass wir nicht dabei umkommen werden und auch nicht daran zugrunde gehen werden.

David beruft sich auf den Gott, der ihm schon im Kampf gegen Löwen und Bären geholfen hat. Er glaubt nun, dass er in diese eine große Schlacht nicht alleine ziehen wird.

Natürlich kann ich jetzt erzählen, dass Gott auch uns mal geholfen hat. Aber das wäre für mein Empfinden nicht ehrlich und an den Haaren herbei gezogen, denn es fühlt sich einfach nicht so an, als hätte in den letzten Jahren ein Gott eingegriffen.

 

 Aber vielleicht, ist die Tatsache, dass wir noch stehen und uns aneinander klammernd vorwärtsbewegen, mal schreiend voller Wut und mal in den Schlaf weinend, vielleicht ist das schon ein Wunder. Denn ich weiß nicht, wie das funktioniert hat. Ich weiß, dass es Horror Jahre sind und ich mehr schlechte als gute Erinnerungen habe und ich mir nichts so sehr wünsche wie einen großen Lichtblick. Ich sehe mich mitten in der großen Schlacht stehen und vermisse meinen Gott, weil er noch immer nicht eingreift.

Von Zweifeln brauche ich gar nicht anfangen. Die liegen einfach viel zu nah.

Aber, oh man, wir stehen. Wir stehen immer noch. Wenn auch mit ziemlich nassen Wangen, zitternden Händen und einem Herzen, schwer wie Blei. Aber irgendwie stehen wir.

Wir lachen auch. Wir sind weit davon entfernt, nur in Trauer zu baden und über die Lage zu weinen. Das ist das Ding mit der phasenweisen Präsenz. Man lernt eben, es mal auszublenden und albern und fröhlich und unbeschwert zu sein und einen Tag später lässt man es ein Stück weit zu und die Tränen dürfen fließen.

 

David sagt „Leite mich durch deine Wahrheit und lehre mich, denn du bist der Gott, der mir hilft. Täglich hoffe ich auf dich. Denk an dein Erbarmen, Jahwe, und an die Beweise deiner Gunst, denn sie waren immer schon da.“ (Psalm 25,5-6 NeÜ).

Während mein Sohn also schläft und ich ihn in Sicherheit weiß, vor der Invasion der Krokodile in seinem Zimmer, wird wieder mal ein neuer Keim der Hoffnung in mir wach. Selbst wenn ich mich nicht auf den Sieg über Bären und Löwen berufen kann, glaube ich dennoch an ein gutes Ende, weil Gott gut ist. Weil er immer gut war und in Millionen Momenten seine Liebe und Gunst bewiesen hat. Ich hoffe einfach darauf. So wie David hoffe ich an jedem einzelnen Tag darauf.

 

Gottes Gunst war immer schon da und ich glaube ganz fest, dass unsere Geschichte diese Tatsache nicht verändert hat.

 

Ich glaube, es gibt viel zu viele, die wie ich noch nicht am Ende angekommen sind und es ist noch nichts leichter und besser. Wir haben eine Berechtigung unseren Mund aufzumachen und schon mittendrin zu erzählen. Ich muss nicht warten, denn egal wie meine Geschichte ausgeht, bleibt Gott, der Gott, der Wunder tut. Er hat schon so oft bewiesen, dass er das siegreiche Ende geben kann und ich hoffe weiter darauf. Und wenn nicht, hat er es trotzdem bei unzähligen anderen gemacht und ich freue mich für jede Geschichte mit Happy End. Vielleicht erzähle ich eines Tages von meiner, aber nicht jetzt. Jetzt ist es hart, unfair und voller Tränen. Es verdirbt die gute Stimmung und lässt eine beklemmende Schwere zurück, wenn ich sie erzähle. Aber das kann ich nicht leugnen und es bringt die anderen nicht um.

Deshalb warte ich nun, das dieser frische Keim der Hoffnung nun wächst und mich stärkt, dass er die Zweifel der letzten Monate vertreibt und mich weiterbringt.

Ich warte auf den Gott, der vor 16 Jahren genauso gütig und voller Liebe und Barmherzigkeit war, wie er es jetzt noch ist.